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Fast Forward statt Fast Fashion
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Wie ein rasanter Ausbau des Metaverse die Textil- und Modeindustrie revolutionieren kann

Ein Beitrag von Simon Graff – FOR REAL?!

Der internationale Markt für schnell produzierte Mode boomt wie kaum kein ein anderer. Während große Fashion-Giganten im Eiltempo Modehäuser mit kurzlebiger Billigware überschwemmen, werden andernorts Berge von Altkleidern in astronomische Höhen gestapelt. Allein auf dem chinesischen Markt erzeugt das Mode-Label Shein täglich mehr als 3.000 Artikel, die schnell und zielgerichtet an alles und jeden verramscht werden (1). Große Brands wie H&M, Zara und Primark tun es Shein gleich und werden zu gigantischen Müllschleudern für weitgehend unökologisch produzierte Ware, die zudem unter teils desaströsen Bedingungen für die Mitarbeiter:innen erzeugt wird. Wen das nicht schockiert, den wird interessieren, dass die Bekleidungsbranche jährlich etwa 10% der weltweiten CO2-Emissionen verursacht (2). Hierzu trägt das Geschehen aus der Fast-Fashion-Industrie wesentlich bei. Das wirft die Frage auf, wie Länder diese Form der Mode mit ausgesprochen geringer Halbwertszeit, peinlich schlechten Ökobilanzen und den menschenverachtenden Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiter:innen als Gesellschaft weiter dulden können. Ein derart ungezügelter Konsum treibt die großen zeitaktuellen Krisen immer weiter voran. Wer der Vermüllung des Blauen Planeten nicht tatenlos zusehen möchte, der weiß, dass die Zeit für nachhaltige Lösungen und Alternativen längst angebrochen ist.

In der voranschreitenden Digitalisierung und Technisierung liegt womöglich die nachhaltigere Antwort, da verstärkt ein neuer Akteur in den Vordergrund drängt, der viele kluge Lösungsansätze und Potenziale anbietet. Mit dem Metaverse tritt eine Idee auf den Plan, die in ihrem Kern gar nicht so neu ist. Viele erkennen hierin bereits eine erste Chance der Umgestaltung von Märkten und Produkten – und plötzlich zeigen sich neue Präsentationsflächen in Form von digitalen Plattformen und Bühnen. Virtuelle Räume im Web 3.0 sollen eine Lösung für das Problem der Bekleidungsindustrie darstellen. Doch die Metaverse-Expert:innen wissen: Damit dem so ist, muss Mode für die Konsument:innen noch immer erlebbar und begreifbar sein wie auf Laufstegen oder in Modehäusern. Doch was ist das Metaverse, das hier als Heilsbringer um die Ecke marschiert und sich wichtigmachen will?

Als Neal Stephenson in seinem Roman „Snow Crash“ den Begriff des Metaversums in den 90er-Jahren populär machte, war nicht klar, dass dieser Begriff einige Jahrzehnte später als immer wiederkehrendes Buzzword durch den digitalen und analogen Raum schwirren sollte. Das Metaverse meint eben jenen Raum, der Virtualität und analoge Realität miteinander verschwimmen lässt und als Symbiose neue Wirkplätze möglich macht. In digitalen holistischen 3D Spaces, die haptisch, visuell und akustisch erleb- und begreifbar sind, sollen die Produkte, Brands und Ideen der analogen Welt als Inhalte in Form von NFTs (Non-Fungible Tokens) und über virtuelle Abbilder, sogenannte Avatare, verwirklicht werden. Die so geschaffenen Elemente sind dann auf dezentralen Online-Plattformen wie OpenSea und SuperRare und somit auf virtuellen NFT-Marktplätzen auffindbar und stehen für den Handel zur Verfügung. Diese virtuellen Güter erlauben es Anwender:innen, ihren virtuellen Kleiderschrank auf allen Metaverse-Plattformen zur Schau zu tragen. Mit Hilfe der Avatare bewegen sich die User:innen in künstlich geschaffenen 3D-Räumen gerade so, als würden sie über Ladenflächen flanieren, auf Bühnen stehen oder in Konferenzräumen verweilen. Auf diese Weise wird der globale Austausch im Handumdrehen von Räumen der physischen Realität entkoppelt und zugänglich für alle. Das bietet Modellabels einzigartige Chancen, neue Zielgruppen zu erschließen und frühzeitig zu überlegen, in welcher visuellen, ästhetischen Sprache das eigene Label, die eigene Mode in der Virtualität sprechen soll.

Die virtuelle Umkleidekabine
Wer in Sekundenschnelle Räume wechselt, erlebt ganz neue Markt-Dynamiken und Interaktionsmöglichkeiten, wie das Beispiel der erstmals rein virtuell abgehaltenen Metaverse Fashion Week 2022 eindrucksvoll zeigt (3). Aber auch ganz aktuelle Event-Kreationen wie die Gucci Town auf Roblox oder die Fashion Show von Balenciaga, Prada und Thom Browne auf Meta zeigen auf, was möglich ist. Avatare werden hier zu Models, die virtuelle Fashion von unterschiedlichen Brands der Branche vorstellen. Digital, global, in Echtzeit und – nachhaltig. Denn das, was hier präsentiert wird, muss nicht erst in großem Stil hergestellt werden, um laufstegfähig zu sein. Auch die zu produzierende Mode großer Hersteller:innen und solche, die im Rahmen von Fashion-Shows geschaffen wird, entfällt weitestgehend und bleibt zunächst exklusiv dem virtuellen Markt und digitalen Räumen vorbehalten. Die Idee ist: Mode erst einmal virtuell zugänglich zu machen, als NFT – also als digitales Item handelbar und für den virtuellen Gebrauch nutzbar. Was wie ein Märchen klingt, ist am Ende ein ausgeklügeltes Konstrukt und der Versuch, neue Darstellungswege für die Produkte der Brands und Branche zu schaffen. Und die Rechnung geht auf. Denn tatsächlich nahmen zur Metaverse Fashion Week in diesem Jahr über 100.000 Teilnehmer:innen in Form von eigens geschaffenen Avataren teil. In von Modelabels und Designer:innen geschaffenen virtuellen Showrooms konnten die User:innen sich bewegen und die neuste Fashion bestaunen. Maximale Sichtbarkeit für Marken, Designer:innen und Models waren also garantiert.

Gaming als Mode-Blaupause
Seit Jahren macht die Games-Industrie es vor und die Textilindustrie und andere Branchen gucken es sich ab. Mit Fortnite, dem Battle-Royale-Shooter, ist uns längst ein Erfolgsfall bekannt, der Mode für den digitalen Gebrauch zugänglich macht. Im Spiel selbst modifizieren User:innen ihre Spielfiguren durch modische Accessoires und werten ihren Lieblingscharakter mit kompletten Kostümen, sogenannten Skins auf. Das hat im Laufe der letzten Jahre einen immensen Hype ausgelöst, sodass inzwischen bekannte Labels ihre ganz eigene Modereihe in Form von virtuellen Skins für Spielfiguren des Titels anbieten. Zusätzlich ruft das eine neue Generation von Designer:innen auf den Plan, die in puncto virtuellen Metaverse-Modedesigns ihr reales Geld verdienen (4). Gucci, Balenciaga, Givenchy, Montcler sind nur einige Namen, die diesen Schritt wagen und Vorreiterrollen einnehmen und dabei vor allem auf virtuelle Güter und deren Verkauf an die zig Millionen „daily active users“ abzielen.

In solchen Games, also ersten Quasi-Metaversen, zeichnet sich bereits heute ab, welche Potenziale in der Vermarktung von reinen Online-Produkten in puncto digitaler Mode stecken. Das Interesse der User:innen, ihre virtuellen Avatare in proxy, also stellvertretend für sich selbst, digital einzukleiden, kann man sprichwörtlich als Modeerscheinung bezeichnen, die bis heute anhält. Auf Plattformen wie Roblox und Zepeto blüht der Handel mit virtuellen Gütern und Experiences geradezu, was Milliarden-Umsätze alleine durch die Gaming-Industrie bedeutet. Spieletitel wie Fortnite stehen demnach schon jetzt sinnbildlich dafür, wie relevant diese Form von virtueller Identität, Lifestyle und auch Selbstinszenierung für digital-affine Generationen ist.

Die Web 3.0 Technik
Die Umsetzung der virtuellen Fashion basiert dabei auf einem Mix aus 3D-Gestaltung im Design sowie einer Vielzahl unterschiedlicher Technologien, wie künstlicher Intelligenz, Virtual-Reality(VR)- und Augmented-Reality(AR)-Technologien und entsprechender Software-Umgebungen zur Visualisierung der virtuellen Modewelten und ihrer It-Pieces. Ein Muss sind diese futuristisch anmutenden Technologien jedoch nicht, wie Online-Unternehmen wie DressX beweisen, deren Mix aus Mode und Technologie auf eher „klassischen“ Kanälen wie Instagram und Co stattfindet. DressX nutzt die Potenziale der 3D-Technologie auf einfachere Weise. Als virtuelles Modehaus und „virtual tailor“ gleichermaßen. Kund:innen erwerben auf der Website, wie beim realen Pendant gewohnt, Mode unterschiedlichster kuratierter Designer:innen – nur dass diese rein virtuell existiert. Nach Erwerb wird der erworbene Mode-Gegenstand, als Teil des Services, auf ein Foto der Käufer:in gelegt und wirkt so, als würde er real existieren – quasi sofort bereit für ein Posting auf einschlägigen Social-Media-Plattformen. Weder Kund:in noch Modelabel haben zusätzliche Arbeit. Befähigt werden die progressiven Modeschaffenden hierbei u. a. durch professionelle 3D-Mode-Tools wie Marvelous Designer oder Clo3D. Die Designer:innen können hierbei ihren Konzepten und Entwürfen freien Lauf lassen und sich zunächst rein virtuell austoben. Der Mode wird in Sachen Formen, Farben und Stoffen kein Riegel bei ihrem Entwurf vorgeschoben und auch die Tatsache, dass prinzipiell jedes potenzielle Endprodukt für alle Konfektionsgrößen gedacht werden kann, ist ein großer Vorteil. Zudem entsteht kein unnötiger Verbrauch von Stoffen und Materialien, die als Textilabfall direkt wieder in der Tonne landen.

Darüber hinaus üben sich zahlreiche Modeschöpfer:innen bereits an neuen Feldern und verbinden Mode mit klassischer Kunst. Denn die digital geschaffene Mode dient inzwischen auch als Leinwand für Gemälde von Dali, van Gogh und Picasso mit ihren berühmtesten Werken. Diese auf der eigenen Kleidung zu tragen ist überhaupt kein Problem. Wer da Vincis „Das letzte Abendmahl“ als Kleidungsstück zum eigenen Dinner auftragen möchte, kann das nun tun. Unternehmen wie DressX bieten dazu AR-gestützte Apps an, die die Digitalmode zur Anprobe, zum Kauf und zum Tragen zur Verfügung stellt. Dieser Mix aus klassischem Handwerk und Technologie eröffnet ein ganz neues Feld der kreativen Arbeit und ruft viele virtuelle Next Level Creatives auf den Plan, die ihr Wissen um Nadel, Faden und Algorithmen zielführend anbringen können. Im Vordergrund steht der Versuch, die Dematerialisierung von Mode aus dem physischen Raum zu ermöglichen. Nicht vollständig, versteht sich, aber immer im konsequent nachhaltigen Bewusstsein.

Wenn sich immer mehr Brands der Bekleidungsindustrie dazu entscheiden, diesem Trend zu folgen und sich einem neuen, umweltbewussteren Wirtschaften anschließen, schauen wir einer konstruktiven Zukunft und einer progressiven Symbiose entgegen, die nicht mehr aufzuhalten erscheint. Bereits heute zeigen Videospiele und die Nutzungsgewohnheiten der digitalen Generationen, dass diese nicht mehr im klassischen Sinne zwischen einer Online- u. Offline-Welt differenziert. Virtuelle Gegenstände bedeuten reales Prestige, Avatare tragen Markenkleidung, Milliarden werden hierfür ausgegeben — ein wachsender Trend, der mit der zunehmenden Verschmelzung von Virtualität und Realität weiter an Bedeutung gewinnen dürfte. Für die Modeindustrie und ihre Akteur:innen eröffnet sich hierbei die Möglichkeit, wenn nicht gar die Pflicht, sich in virtuellen Welten zu positionieren, um ihre aktuelle Relevanz auch in Zukunft halten zu können.

Die Erwartungshaltung dieser Generationen von Nutzer:innen wird sich ändern. Virtuelle Präsenzen, Güter und Erlebnisse werden die neue Norm, eine riesige Chance für Modemarken, auf diesen Plattformen neue Umsätze zu generieren, Designs zu erproben und Communities aufzubauen, darstellen. Dem gegenüber steht natürlich das Risiko, diese Entwicklungen zu verpassen.


Simon Graff ist Geschäftsführer der von ihm 2021 gegründeten Beratungsagentur FOR REAL?! Media & Entertainment GmbH mit Sitz in Berlin. FOR REAL?! unterstützt und berät Unternehmen und Brands, die den digitalen Ausbau auf dem Gebiet der immersiven Medien sowie der virtuellen Produkte, Ideen und Narrative kommunikativ anstreben. Mit seiner jahrelangen Erfahrung auf dem Gebiet der AR-, VR-, MR- und XR-Technologien weiß Simon Graff bei der konzeptionellen Entwicklung und dem Ausbau neuer unternehmerischer Geschäftsmodelle zum Erschließen digitaler Märkte in virtuellen, holistischen 3D Spaces zu helfen.

Quellen:
(1) https://www.monopol-magazin.de/die-zerstoererische-liebe-der-generation-z-zur-fast-fashion
(2) https://www.europarl.europa.eu/news/de/headlines/society/20201208STO93327/umweltauswirkungen-von-textilproduktion-und-abfallen-infografik
(3) https://www.vogue.de/mode/artikel/metaverse-fashion-week-2022-highlights
(4) https://markets.businessinsider.com/news/currencies/metaverse-fashion-designer-influencer-monica-quin-zepeto-six-figure-income-2021-12