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Sechs Ideen für eine textile Post-Corona-Perspektive
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Produktionsausfälle, geschlossene Geschäfte, zusammengebrochene Lieferketten und Umsatzverluste in Milliardenhöhe – Corona droht die Textilbranche zu zerreißen wie ein Shirt im Recycling. Doch eine der ältesten Industrien hat schon viele Krisen erlebt – und den Faden stets neu aufgenommen. Wie das auch diesmal gelingen kann, dafür hat Kai Nebel, Experte für textile Verfahrenstechnik an der Hochschule Reutlingen, einige Ideen.

1. Mehr Slow Fashion statt Fast Fashion.
Vor allem Textilproduzenten und der stationäre Handel mit seinen oft kleinen, inhabergeführten Betrieben leiden massiv unter den Auswirkungen von Corona. Es wurde Ware hergestellt, geordert und bezahlt, die nicht verkauft werden kann. Aufträge in Milliardenhöhe an Produzenten in Asien wurden storniert. Die Geschäfte waren wochenlang geschlossen und wenn sie wieder öffnen, ist es draußen zu warm für die Übergangskleidung.

Doch wenn die Branche ehrlich gegenüber sich selbst ist: Das Coronavirus wirkt hier eher wie ein Vergrößerungsglas für eine der ohnehin größten Herausforderungen. Seit Jahren wird stetig mehr produziert als verkauft. Es gibt Schätzungen, nach denen bis zu 40 Prozent einer Saisonkollektion nicht abgesetzt werden – und es gibt inzwischen bis zu 24 Kollektionen pro Jahr. Corona könnte den Einstieg in eine entschleunigte Produktion befördern, könnte die Kurzfristigkeit aus dem System nehmen und zugleich den Transport- und Logistikaufwand minimieren.

Große wie Kleine in der Branche spüren gerade auf extreme Weise, dass alle im selben Boot sitzen; vielen steht das Wasser bis zum Hals, manchen nur bis zu den Knien – aber nass werden doch alle. Gegen den Kannibalismus in der Branche helfen Kooperation und Solidarität. Der Handel beispielsweise könnte der Versuchung widerstehen, die Verluste durch Rabattschlachten wettzumachen. Der Dominoeffekt drückt auch die Preise für Produzenten und Lieferanten, die von der Krise ebenfalls schwer betroffen sind. Wenn langfristig die Einsicht gewinnt, dass man sich nicht dauerhaft unterbieten muss, wäre das ein enormer Zugewinn.

2. Die Verbraucher haben es in der Hand.
Industrie und Handel sind aber nur die eine Seite; eine weitere ist das Verhalten der Konsumenten. Aktuell sind alle aus ihren gewohnten (Kauf-)Routinen gerissen. Für den Kunden ist diese Krise auch eine Chance zur Besinnung: Was ist wirklich wichtig? Nimmt meine Lebensqualität ab, wenn ich weniger Kleidung kaufe? Ein guter Moment, die „Geiz ist geil“-Mentalität und Schnäppchenjagden zu hinterfragen. Laut einer Greenpeace-Studie aus dem Jahr 2015 hängen allein in deutschen Kleiderschränken unglaubliche 5,2 Milliarden Kleidungsstücke, und 2-3 Milliarden davon werden nur ein- bis zweimal oder gar nicht getragen. Die Schranktüren stehen für Veränderungen gerade sperrangelweit offen – es könnte der Beginn einer echten Nachhaltigkeitsrevolution sein.

Dafür braucht es aber auch mehr Anreize für die Unterstützung fairer Wertschöpfung und den Kauf nachhaltiger Kleidung, zum Beispiel eine höhere Verfügbarkeit im konventionellen Handel, Rückgabe- oder Bonusmodelle und mehr Kommunikation und Information zu solchen Themen. Woher kommt eigentlich mein T-Shirt, was steckt drin und wer hat es unter welchen Bedingungen hergestellt? Auch sollte es mehr Aufklärung über textile Produktionsbedingungen geben, nicht nur in den Medien, auch an Hochschulen, in Betrieben, in Kindergärten und Schulen.

3. Eine Chance für mehr Regionalität: Die während der Krise in Deutschland und Europa (re)aktivierten Lieferketten lassen sich auch in Nach-Corona-Zeiten nutzen.
Bundeskanzlerin Merkel sagte kürzlich, eine gewisse Souveränität bei der Eigenfertigung von Schutzausrüstung und Mundschutzmasken in Deutschland und Europa sei als Erfahrung aus der Pandemie wichtig. Dass viele Mode- und Textilfirmen auf die Produktion von Atemschutz, Mund-Nasen-Masken und textiler Schutzkleidung umstellen, zeigt: Der (Wieder-)Aufbau einer hiesigen textilen Infrastruktur ist möglich!

Ich bin überzeugt: Die reaktivierten und neu geknüpften Lieferketten sind belastbar und flexibel genug, um auch künftig zu funktionieren. Und auf Maschinen, die zum Aushelfen in der Krise angeschafft werden, könnten künftig T-Shirts, Jeans und Blazer lokal entstehen. Natürlich liegen gewaltige Herausforderungen auf dem Weg: Eine lokale Primärproduktion, ob nun Spinnerei, Weberei, Veredlung oder Konfektion, wäre auf dem Weltmarkt derzeit nicht konkurrenzfähig. Aber es lassen sich Strukturen etablieren, damit sich die heimische Fertigung für Produzenten, Handel und Verbraucher gleichermaßen lohnt.

Dazu sollten auch Textilberufe eine neue Wertschätzung erfahren, ganz so wie im Einzelhandel und im Gesundheits- und Pflegebereich. Durch die Verlagerung der Produktion nach Asien haben textile Tätigkeiten an Attraktivität verloren. Hier sollte die Textilbranche viel selbstbewusster auftreten und mehr für die Nachwuchsförderung tun . Gerade im Bereich der technischen Textilien ist es inzwischen eine Hightech-Branche, die sich hinter Automobil, IT und Maschinenbau nicht zu verstecken braucht – zeigt das den angehenden Azubis!

4. Perspektiven schaffen durch moderne Produktionsweisen und neue Geschäftsmodelle. Und: Keine Angst vor der Digitalisierung!
Es gibt inzwischen viele spannende Ansätze für eine moderne und nachhaltigere Produktion , von der Verwendung von Naturmaterialien über eine hocheffektive Chemiefaserproduktion bis hin zu umweltverträglichen Veredlungsverfahren. Und ich hätte da noch eine Idee: Kreislauffähige Stoffe, produziert mit sauberer Technologie von fair bezahlten Menschen, transparent in Verarbeitung und Lieferung, verkauft zu vernünftigen Preisen. Klingt utopisch? Ist es nicht. Viele deutsche und europäische Hersteller sind schon sehr nachhaltig, denn für sie gelten strenge Umweltauflagen; auch sind Tariflöhne und Arbeitsschutzgesetze auf der Höhe der Zeit. Und die Digitalisierung kann die Ressourceneffektivität und Kreislaufwirtschaft deutlich verbessern.

Aber am Ende geht es auch bei einer lokalen Produktion um Massenströme und Preise. Die Branche sollte deshalb nach neuen Geschäftsmodellen Ausschau halten. Deutschland und Europa bieten dafür eine leistungsfähige Forschungs- und Entwicklungslandschaft mit Vorlaufforschung auch für digitale Produktionsweisen und neue Konzepte. Außerdem sollte man Anwenderindustrien wie Luft- und Raumfahrt, Automotive und Bekleidung verstärkt für die interdisziplinäre Anwendungsforschung gewinnen.

5. Die Textilbranche könnte zur weltweiten Vorreiterindustrie in Sachen Nachhaltigkeit werden.
Ohne Frage: Bei der Nachhaltigkeit gibt es bereits viel Bewegung. Kleine Modelabels produzieren in immer größeren Stückzahlen faire und ökologisch wertige Kleidung . Auch die großen Konzerne reagieren auf den Trend, nehmen getragene Stücke zurück, um sie (vermeintlich) zu recyceln, oder bieten verstärkt „nachhaltige“ Mode an. Dabei darf es aber nicht bleiben. Wer auf der einen Seite große Gewinne mit nicht-nachhaltiger Kleidung erzielt und öffentlichkeitswirksam wenige Nachhaltigkeitsakzente setzt, fördert den Reboundeffekt. Der besagt: Geben sich Unternehmen nachhaltiger als sie es tatsächlich sind, kaufen Kunden guten Gewissens auch mehr nicht-nachhaltige Ware. Statt aber Geld ins „grüne Marketing“ zu stecken, sollte es künftig in einen echten grünen Wandel fließen.

Kaum ein Verbraucher überblickt noch den Dschungel an Nachhaltigkeitssiegeln – das fällt sogar mir als Experten schwer. Warum nicht direkt auf den Etiketten Transparenz schaffen, wie und wo das Kleidungsstück hergestellt wurde, nachverfolgbar über Apps? Warum nicht Siegel wie den „Grünen Knopf“ erblassen lassen angesichts brancheneigener Nachhaltigkeitserfolge, die die Anforderungen des staatlichen Gütesiegels deutlich übertreffen? Gutscheine und die Rücknahme von Altkleidern sind nette Gesten zur Kundenbindung und Absatzförderung, aber muss ein Kleidungsstück wirklich 30.000 Kilometer zurücklegen, nur, um am Ende ungetragen im Altkleidersack wieder in Bangladesch zu landen?

Dass Nachhaltigkeit und die Einhaltung ethischer Standards wirtschaftlich hoch attraktiv sind, zeigt das Verhalten von Investoren: Sie üben zunehmend Druck auf Unternehmen aus, ethische und ökologische Standards einzuhalten. Warum? Weil die Nachfrage nach nachhaltigen Produkten und fairer Produktion steigt und weil dort die Geschäftsmodelle der Zukunft liegen.

6. Kann die Politik mehr Anreize für eine nachhaltige, lokale und faire Textilherstellung schaffen? Und ob!
Regional produzierende Firmen könnten steuerlich entlastet werden oder verbesserte Kreditkonditionen erhalten. Auch lassen sich die öffentliche Beschaffung nachhaltiger gestalten, Ein- und Ausfuhren nachhaltiger Textilware steuerlich besserstellen oder Subventionen für ökologische Produkte einführen. Außerdem könnte die Politik mehr Transparenz bei den Lieferwegen einfordern. Sie könnte Umweltverstöße auch im Ausland sanktionieren und Nachweise zur Herkunft ebenso verlangen wie solche zu fairen Arbeitsbedingungen. Zölle und Transportgebühren wären weitere Steuerinstrumente. Die Politik muss sie nur wollen.


Autor: Ronny Eckert
Dieser Artikel erschien zuerst auf dem Texprocess-Blog der Messe Frankfurt: http://www.texprocess-blog.de


Bild 1: Kai Nebel forscht, lehrt und berät Unternehmen in den Bereichen Nachhaltigkeit, Recycling, Kreislaufwirtschaft, Produktentwicklung und nachwachsende Rohstoffe / Quelle: Hochschule Reutlingen

Bild 2: Laut Wissenschaftler Nebel sollte die Textilbranche mehr für die Nachwuchsförderung tun. Speziell im Bereich der technischen Textilien sei man inzwischen Hightech – „Zeigt das den angehenden Azubis!“, so Nebel. / Quelle: Gustavo Fring auf Pexels